Wohnbedürfnisse

Wohnen auf Zeit

Die durchschnittliche Verweildauer in stationären Bereichen der Psychiatrie und Psychotherapie hat in den vergangenen Jahren stetig abgenommen. Sie lag im Jahr 1994 noch bei 43,8 Tagen und hat 2010 ein Niveau von 22,9 Tagen erreicht. Einhergehend mit dieser Verkürzung der Verweildauer stiegen jedoch die Fallzahlen (Psychiatrische Fachabteilungen zusammen) von 704.363 (2000) auf 885.050 (2010), so dass eine Tendenz zur Wiederaufnahme entlassener Patienten vermutet werden kann.

Die tendenziell immer kürzer werdenden Verweilzeiten liegen traditionell deutlich über denen der somatischen Kliniken. In der Chirurgie beispielsweise sank die Verweildauer von 9,6 Tagen (2000) auf 7,8 Tage (2010). Die höchsten Werte werden im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Psychotherapeutischen Medizin mit durchschnittlichen Verweilzeiten von 40,1 Tagen bzw. 42 Tagen im Jahr 2010 erreicht (Statistisches Bundesamt, recherchiert am 14.10.2012).

Mit dem Bewusstsein über die lange Aufenthaltsdauer und den psychischen Ausnahmezustand, in dem sich die Patienten befinden, müssen die Kliniken, insbesondere das Patientenzimmer, geplant werden. Eine positive Einstellung des Patienten zur Einrichtung und eine vertrauensvolle Atmosphäre tragen entscheidend zum Therapieerfolg bei. Betrachtet man den Aufenthalt auf einer psychiatrischen Station aufgrund der Dauer als Wohnen auf Zeit, können Maßstäbe für die Gestaltung abgeleitet werden.

Das Patientenzimmer wird in der Psychiatrie als privater Schlaf- und Rückzugsort genutzt. Die Kriterien für die Gestaltung dieses Bereiches leiten sich aus den Wohnbedürfnissen der Patienten ab. Flade (vgl. Flade & Roth, 2006) definiert die wichtigsten Wohnbedürfnisse mit Sicherheit und Schutz, Bestätigung und Vertrautheit, Alleinsein und Privatheit, Zusammensein, Zugehörigkeit und Kontakt, persönliche Anerkennung, Ästhetik, Aneignung und Selbstverwirklichung.

Territorien

Um den Wohnbedürfnissen entsprechen zu können, ist die Ausbildung klarer Territorien erforderlich. „Territorialität bezeichnet das Phänomen, dass Einzelpersonen oder Gruppen gegenüber anderen die Verfügbarkeit über Areale oder Objekte für sich reklamieren. […] Territoriale Ansprüche manifestieren sich in der selbstverständlichen Nutzung von Arealen und Verhaltensobjekten und durch die Setzung von Gebietsmarkierungen (Zulassen oder Einspruch gegen Areal- bzw. Objektnutzung, Positionieren und Personalisieren der Einrichtungsgegenstände und Wandflächen).“ (Dieckmann et al., 1998: 55)

Ein Territorium ist also ein realer geographischer Ort, der kontinuierlich, d. h. auch während deren Abwesenheit, mit einer bestimmten Person verbunden ist. Für Patienten übernimmt das eigene Bett und dessen näheres Umfeld für die Zeit der stationären Behandlung die Aufgabe des persönlichen Territoriums. Man spricht von einem primären Territorium, da der Bereich im Besitz einer Einzelperson ist. Im Vergleich dazu werden sekundäre Territorien von Gruppen beansprucht.

„Die psychologische Wichtigkeit solcher primärer Territorien ist für die Bewohner immer sehr groß, denn dort kann Privatheit gefördert und die persönliche Identität ausgedrückt werden.“ (Blumenberg, 1994: 17). Ein eigenes Territorium zu besitzen, sei es auch noch so klein, entspricht den Bedürfnissen des Menschen. Territorien haben vielfältige Funktionen. Durch die größere Autonomie und Kontrolle über das Gebiet vermitteln sie ein Gefühl von Schutz und bieten eine Privatsphäre, in der Emotionen frei ausgelebt werden können. Territorien dienen dem Wohlbefinden, der Leistungsfähigkeit und der Identitätsentwicklung.

Aneignung von Territorien

Das Personalisieren und Markieren von Umwelten wird als Aneignung bezeichnet und erfolgt insbesondere in primären Territorien. Durch die Aneignung verändert der Eigentümer sein Territorium nach den persönlichen Vorstellungen. Das Areal wird individualisiert und Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Dies geschieht beispielsweise durch das Möblieren von Räumen, das Dekorieren oder Drapieren persönlicher Gegenstände wie Familienfotos, Souvenirs oder Bücher.

Die Aneignung dient zum einen der besseren Nutzbarkeit sowie der Bedeutungsverleihung und andererseits der Markierung und dem Abgrenzen des eigenen Territoriums gegen andere.

Stehen keine Möglichkeiten der Aneignung zur Verfügung, kann dies durch unerwünschte Formen der Personalisierung, z. B. Beschmieren öffentlicher Wände oder Sachbeschädigung kompensiert werden. Das Ermöglichen der Aneignung des Patientenzimmers durch die Bewohner kann somit ebenso als Vandalismusschutz dienen. (vgl. Kruse, Graumann & Lantermann, 1990: 127+541ff)

Literatur

  1. Blumenberg, U. (1994)
  2. Dieckmann, F., Flade, A., Schuemer, R., Ströhlein, G., Walden, R. (1998)
  3. Flade, A., Roth, W. (2006)
  4. Kruse, L., Graumann, C., Lantermann, E. (Hg.) (1990)
  5. Statistisches Bundesamt