Suizidalität

Allgemeine Charakteristik des Kliniksuizides

Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung und auch zur Gruppe der somatischen Patienten haben psychisch Kranke eine wesentlich stärkere Präferenz zur Selbstverletzung und Suizidalität. Psychische Störungen zählen zu den Hauptursachen für Suizidalität. (vgl. Schneider et al., 2005) Die Suizidprävention stellt daher einen wichtigen Teil der klinischen Arbeit dar.

Bereits der französische Reformpsychiater Jean Etienne Dominique Esquirol (1772-1840) forderte eine Unterbringung suizidaler Patienten in offener Landschaft in familiären Häuschen und legte damit den Grundstein der therapeutischen Umwelt. Heute gilt der Zusammenhang zwischen Architektur und Suizidverhalten in Fachkreisen als unbestritten. Der baulichen Suizidprävention kommt daher eine große Bedeutung zu und sie muss zwingend in der Planung bedacht werden.

Glasow (2011) fasst die Erkenntnisse zum Kliniksuizid und zur baulichen Prävention wie folgt zusammen:

Die Suizidenten sind etwa zu gleichen Teilen männlich und weiblich. Das Durchschnittsalter liegt bei etwa 48 Jahren und damit niedriger als bei den Suizidenten der Allgemeinbevölkerung. Insgesamt sind jedoch alle Altersgruppen unter den Suizidenten vertreten.

Die Suizidrate unter Psychiatriepatienten liegt bei 61,65 Suiziden/ 100.000 Patienten und ist damit 5,4-mal so hoch wie die der Allgemeinbevölkerung mit 11,5 Suiziden/ 100.000 Einwohner. Die ermittelte Suizidrate für geschlossen untergebrachte Patienten liegt mit 79 Suiziden/ 100.000 Patienten über der Rate der im offenen Setting behandelten Patienten (55 Suizide/ 100.000 Patienten). Insgesamt werden jedoch 77 % aller Kliniksuizide von Patienten auf offenen Stationen vollzogen.

Ort: Knapp 60 % der Kliniksuizide werden außerhalb des Geländes der Einrichtung verübt. Nur ein geringer Teil der Suizidenten nutzt den Freibereich der Einrichtung. Der Anteil liegt bei etwa 8 %. Für die Suizide im Gebäude ergibt sich ein Anteil von rund einem Drittel. Etwa 50 % der Suizide werden in größerer Entfernung zur Klinik verübt, so dass auf diese weder durch baulich-präventive Maßnahmen noch durch die Standortwahl Einfluss genommen werden kann.

22 % der Suizide außerhalb der Gebäude der Psychiatrie erfolgten nach Entweichung. Dies entspricht 15 % aller Suizide.

Der Kliniksuizd außerhalb der Einrichtung

Der Kliniksuizd außerhalb der Einrichtung

In fußläufiger Entfernung zur Einrichtung gewinnen die Suizide durch Sichlegen oder Sichwerfen vor ein sich bewegendes Objekt an Bedeutung, so dass sich nahegelegene Bahnstrecken oder vielbefahrene Straßen zu Suizidhotspots entwickeln können. Auch Strangulationen treten häufig auf, können jedoch durch präventive Maßnahmen kaum noch verhindert werden. Darüber hinaus können auch nahegelegene Hochhäuser oder Gewässer einen Hotspotcharakter entwickeln.

Die Suizidorte in der Umgebung befanden sich häufig in einer Entfernung von 150 bis 200 m zur Einrichtung. Aufgesucht wurden häufig natürliche Umgebungen, da diese im Gegensatz zu eher urbanen Bereichen ein höheres Maß an Ungestörtheit bieten. Das Beispiel Emmendingen hat gezeigt, dass eine Verlängerung der Wegstrecke zwischen Klinik und Suizidort von 500 auf 1400 m (davon liegen etwa 250 m auf dem Gelände der Psychiatrie) eine deutliche Reduktion der Suizidrate zur Folge hat. Dies wird jedoch auch auf die reduzierte Präsenz (akustisch und optisch) der Gleise zurückgeführt. Eine Minimalentfernung zwischen Suizidhotspots und psychiatrischen Einrichtungen lässt sich nicht ableiten.

  1. Suizidalität

Der Kliniksuizid auf dem Gelände der Einrichtung

Der Kliniksuizid auf dem Gelände der Einrichtung

Auf dem Gelände der psychiatrischen Einrichtungen sind an erster Stelle Sprungsuizide und nachfolgend Strangulationen am häufigsten. Im Zusammenhang mit einer antisuizidalen Gestaltung sind neben dem eigentlichen Freiraum auch Nachbargebäude mit zu betrachten. Im Außenbereich selbst sind Strangulationsmöglichkeiten kaum auszuschließen. Innerhalb von Gebäuden stellen jedoch blickgeschützte Rückzugsorte, beispielsweise zugängliche Kellerräume von Nachbargebäuden oder auch leerstehende Häuser, oft vermeidbare Risikofaktoren dar.

Ebenso werden in Nachbargebäuden Suizide durch Sturz in die Tiefe verübt. Obwohl eine flächendeckende Sprungsicherung sicherlich unrealistisch ist, kann in Einzelfällen eine suizidhemmende Gestaltung von Fenstern oder Balkonen an exponierten Orten, z. B. öffentlichen Wartebereichen in den oberen Geschossen, durchaus sinnvoll sein.

Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass Baustellenbereiche, z. B. durch ungesicherte Gerüste oder Kräne sowie die Rückzugsmöglichkeiten im ungenutzten Gebäude, mit einem erheblichen Risiko verbunden sind. Entsprechende Sicherheitsvorkehrungen sind obligatorisch.

Der Kliniksuizid innerhalb der Gebäude der Psychiatrie

Der Kliniksuizid innerhalb der Gebäude der Psychiatrie

Die Suizide innerhalb der Gebäude der Psychiatrie werden fast ausschließlich auf den Stationen, vorwiegend den eigenen Behandlungsstationen der Patienten, verübt. Ausnahmen stellen Treppenhäuser, auch außen liegende Fluchttreppen, Dachböden und außerstationäre WC-Anlagen dar. Innerhalb der Stationen wurden zu 47 % die Patientenzimmer inklusive der Überwachungsräume und zu 42 % in zentralen oder dezentralen Nassräumen genutzt. Suizide im Schwesternstützpunkt, dem Stationsflur, dem Aufenthaltsbereich oder dem Stationsbalkon stellen eher die Ausnahme dar.

Die Verfügbarkeit von Suizidmethoden innerhalb der Gebäude der Psychiatrie ist naturgemäß beschränkt. Über diese Beschränkung hinaus werden nur sehr wenige Methoden ausgewählt. In allen vorliegenden Erhebungen wurden nur 7 verschiedene Methoden benutzt. Die häufigste Suizidmethode innerhalb der Gebäude der Psychiatrie ist mit rund 60 % die Strangulation. Ihr Anteil liegt damit noch höher als unter den Kliniksuiziden im Allgemeinen. Am zweithäufigsten tritt der Suizid durch Sturz in die Tiefe auf. Auf dem dritten und vierten Platz liegen die Selbstvergiftung und der Suizid durch einen scharfen Gegenstand.

Es lassen sich Unterschiede in der Wahl der Suizidmethode zwischen Räumen mit eher privatem bzw. halböffentlichem Charakter feststellen. Für den Großteil der Suizide werden Örtlichkeiten mit einem hohen Maß an Privatheit und Rückzug aufgesucht, um Störungen während des Suizides möglichst auszuschließen. Dies erklärt den hohen Anteil an genutzten Patientenzimmern und Nassräumen. Hier ist die Varianz der gewählten Suizidmethoden am größten.

Seltener treten Suizide in eher öffentlichen bzw. halböffentlichen Bereichen der Klinik auf. Da zur Ausführung dieser Suizide nur ein kleines Zeitfenster zur Verfügung steht, beschränkt sich die Auswahl der Suizidmethode sehr stark.

Strangulationen

Strangulationen

Bei Strangulationen besteht ein Zusammenhang zwischen dem Suizid und den vorhanden baulichen Gegebenheiten. Einerseits wird eine Befestigungsmöglichkeit für den Strangulationsgurt und andererseits der Strangulationsgurt selbst benötigt. Als solche werden zum Großteil Kleidungsstücke aus dem persönlichen Besitz der Patienten verwendet, so dass man davon ausgehen muss, dass Strangulationsgurte stets zur Verfügung stehen. Nichts desto trotz können Raumelemente, wie Seile am Schwesternruf, Kordeln an Gardinen oder Jalousien bzw. Elektrokabel, die einen möglichen Strangulationsgurt darstellen, durch ihren Aufforderungscharakter Suizide möglicherweise provozieren und sind daher zu vermeiden.

Den wichtigsten Ansatzpunkt stellt jedoch die Vermeidung von Befestigungsmöglichkeiten für Strangulationsgurte dar. Genutzt werden z. B. Duschabtrennungen, Kleiderschränke, Tür- und Fenstergriffe, Heizkörper und Armaturen, Wandhaken, Vorhangstangen, Rohrleitungen, Angeln von Fenstern oder Bettgestelle.

Die Höhe der genutzten Befestigungspunkte über dem Fußboden geht bis auf ein Maß von 85 cm zurück. Auch die Nutzung tiefer liegender Elemente kann nicht ausgeschlossen werden, so dass Befestigungsmöglichkeiten für Strangulationsgurte auch im unteren Wandbereich zu vermeiden sind. Bei der suizidpräventiven Gestaltung der Raumelemente ist zu bedenken, dass der Lasteintrag bei Strangulationen im Sitzen, Knien oder Hocken nicht senkrecht sondern in einem gewissen Winkel erfolgt.

Suizide anderer Methoden

Sprungsuizide vom Gebäude aus werden vor allem an Fenstern, in Treppenhäusern, ebenso an außen liegenden Fluchttreppen sowie Balkonen und Terrassen verübt. Darüber hinaus können auch temporäre Bauten, wie vom Gebäude aus zugängliche Baugerüste, eine potentielle Gefahr darstellen.

Die Suizide durch Vergiftung werden zum Großteil durch Medikamente, aber auch durch gewöhnliche Drogerieartikel wie Gebissreiniger und Seife herbeigeführt, so dass sich die Möglichkeiten der baulichen Suizidprävention auf eine patientenunzugängliche Lagerung von Medikamenten und toxischen Substanzen wie Reinigungsmittel sowie die Vermeidung von giftigen Materialien oder Pflanzen beschränkt.

Die benutzen Objekte für den Suizid durch scharfen Gegenstand stammen überwiegend aus dem persönlichen Besitz der Patienten. Dazu zählen Nagelscheren und -feilen, Rasierer oder Messer. Es könnte zunächst vermutet werden, dass die bauliche Suizidprävention im restriktiven Sinne keinen Einfluss auf diese Fälle hat. In vielen Einrichtungen wurde jedoch bereits der Zugang zu scharfen Einrichtungsgegenständen, beispielsweise durch die Verwendung von bruchsicherem Glas für Spiegel oder Bilderrahmen, beschränkt. Es kann daher grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, dass Raumelemente oder Einrichtungsgegenstände für den Suizid durch scharfen Gegenstand verwendet werden.

Die Suizide durch Ersticken wurden ausnahmslos unter Zuhilfenahme von Folientüten verübt. Direkte Schlussfolgerungen für die Gestaltung psychiatrischer Kliniken können nicht abgeleitet werden.

Obwohl der Zugang zu Feuer durch die hohe Anzahl an Rauchern in den Kliniken stets möglich ist, treten die Suizide durch Selbstverbrennung selten auf. Präventiv sind schwer entflammbare bzw. nicht brennbare Materielaien einzusetzen und Brandmeldeanlagen zu installieren.

Ansätze der baulichen Suizidprävention

Ansätze der baulichen Suizidprävention

Es hat sich gezeigt, dass die bauliche Suizidprävention unterschiedliche Wege gehen kann. Diese lassen sich jedoch auf drei grundsätzliche Ansätze zurückführen:

  1. Einschränkung der verfügbaren Suizidmethoden (Suizidwerkzeug nehmen)
  2. Vorhaltung von Möglichkeiten zur Überwachung, Kontrolle und nahen Begleitung der Patienten (Zeitfenster minimieren)
  3. Schaffung eines antisuizidalen Milieus mit atmosphärischen Mitteln (Suizidwunsch beeinflussen)

Die beschriebenen Ebenen sind dabei gleichberechtigt und müssen sich gegenseitig ergänzen. Nur auf diese Weise kann eine umfassende bauliche Suizidprävention gewährleistet werden.

Einzelne bauliche Maßnahmen lassen sich aufgrund zahlreicher Schnittmengen zwischen den Ansätzen nicht immer eindeutig zuordnen. So wird beispielsweise durch eine ebenerdige Lage der psychiatrischen Stationen zum einen die Möglichkeit zum Sturz in die Tiefe beschränkt und gleichzeitig das Milieu durch den direkten Kontakt zum Außenraum positiv beeinflusst. Ein anderes Beispiel ist die Anordnung von Therapiebereichen zwischen Stationen. Durch die direkte Anbindung können unbegleitete Wege der Patienten durch das Haus vermieden werden. Nach Therapieschluss können die Räumlichkeiten den Stationen zugeordnet werden. Das erweiterte Raumangebot trägt zu einer positiven Stationsatmosphäre bei (Vermeidung von Beengungsgefühlen).

Literatur

  1. Schneider, B., Bartusch, B., Schnabel, A., Fritze, J. (2005)
  2. Glasow, N. (2011)